V. Was bietet das Internet Menschen mit psychischen Problemen?

Einige Vorteile des Internet wie etwa die Schnelligkeit des Datentransfers und die großen Mengen an Information, die dort zur Verfügung stehen, wurden bereits in den vorhergehenden Abschnitten genannt und machen es für Nutzer mit den unterschiedlichsten Fragestellungen und Interessensschwerpunkten zunehmend zu einem komfortablen Medium. Für mich stellt sich nun die Frage, was das Internet Menschen mit psychischen Problemen bieten kann und welchen Nutzen das Internet für diese Nutzergruppe mit ihren ganz speziellen Fragestellungen und Anforderungen bringt.

Das Robert-Koch-Institut nennt als häufigste psychische Erkrankungen depressive Störungen, Schizophrenie, Alzheimer, Epilepsie, kognitive Entwicklungsverzögerung und Alkoholabhängigkeit (Robert-Koch-Institut 2001, S. 1). Bereits diese sowohl in den Ursachen als auch in der Behandlung sehr verschiedene Krankheitsbilder zeigen, wie weit gefächert dieses Feld ist und lassen unterschiedlichste Anforderungen an Therapie und Hilfestellungen ist. Hinzu kommen viele andere Erkrankungen und daraus resultierende Problemlagen, wie ein Blick auf Portalseiten, die sich mit dieser Thematik befassen, zeigt.
Auch geht es keineswegs um Fragen und Problemstellungen eines kleinen Personenkreises: Unter psychischen, psychosozialen oder neurologischen Störungen leiden weltweit etwa 400 Millionen Menschen, für Deutschland werden in der Altersgruppe von 18-65 Jahren etwa 15,6 Millionen Menschen mit psychischen Erkrankungen geschätzt (Robert Koch Institut 2001, S. 91).

Gerade die Schwierigkeit, psychische Probleme genau zu erfassen, diese dem Umfeld mitzuteilen, und aktiv nach Hilfen zu suchen, ist noch immer mit Hemmschwellen und Tabus verbunden: Es ist einfacher, mit sichtbaren körperlichen Verletzungen und Krankheiten zum Arzt zu gehen als sich und anderen klarzumachen, daß "die Seele leidet" (vgl. Winni 1998, S. 70 ff.). Zu den Schwierigkeiten, vom primären Umfeld wie Freunden und Familie verstanden und unterstützt zu werden, kommen möglicherweise noch Probleme bei der aktiven Suche nach Hilfe in der realen Welt dazu, wie etwa im Fall einer Panikerkrankung oder sozialen ängsten, die den Besuch einer Selbsthilfegruppe oder eines Therapeuten nicht oder nur eingeschränkt erlauben (vgl. Jaeger 1998, S. 40 f.).

Unter diesen Vorannahmen werde ich im Nachfolgenden untersuchen, in wieweit das Internet Hilfestellungen für Betroffene bieten kann. Den Aspekt von professioneller Beratung und Therapie im Internet möchte ich ausklammern, sondern mein Augenmerk auf die Kommunikation von Betroffenen unter sich richten.

 

1. Schnelle, zeitunabhängige und permanente Verfügbarkeit von Informationen

"'Man ist nie alleine', auch nicht zu ungewöhnlichen Uhrzeiten.", stellen die von Reichardt befragten Chatnutzer fest und bewerten dies als Vorteil des Mediums (vgl. Reichardt 2001, S. 70). Wenn diese Aussage auch auf den Chat und somit eher die auf Unterhaltungs- und Freizeitebene abzielt, so ist es doch tatsächlich so, daß sich auch in anderen Bereichen des Internet zu jeder Tages- und Nachtzeit meist jemand zum Austausch findet, und gerade in eingespielten sozialen Bezügen im Netz findet sich bei akuten Krisen häufig jemand, der Hilfestellung bieten kann.

Die Möglichkeit, an viele Informationen zu gelangen ohne dafür großen Aufwand zu betreiben, wird von Betroffenen als Vorteil erlebt. Im Gegensatz zu der Recherche in verschiedenen Zeitschriften und Bibliotheken oder dem Einholen von Meinungen bei Spezialisten, anderen Betroffenen oder dem direkten Umfeld, die meist mit Aufwand und großen Wegen verbunden ist, haben die Suchenden via Internet die Möglichkeit, von zuhause aus am Computer zu recherchieren: WWW-Seiten, deren Inhalte für länger bestehenbleiben und die Archivierung von Foren- und Newsgroupbeiträgen macht das Internet zu einem riesigen Archiv, auf das bei Bedarf zugegriffen werden kann. Mit den geeigneten Suchinstrumenten ist dies deutlich komfortabler als die herkömmliche Informationsbeschaffung "zu Fuß".

Wenn nach diesen Recherchemethoden noch immer Fragen offen sind, bleibt die Möglichkeit, selbst aktiv nachzufragen. Besonders im Usenet werden Beiträge oft in unglaublichem Tempo binnen einiger Stunden (oder auch noch schneller) beantwortet, wie ich selbst erleben konnte.

 

2. Kommunikation und Information trotz räumlicher Distanz

Für viele Menschen mit psychischen Erkrankungen ist die Kontaktaufnahme zu anderen Betroffenen oder zu Experten mit Hürden verbunden oder kann gar nicht stattfinden, da es eben die Kontakte mit der Außenwelt sind, die das eigentliche Problem darstellen: "Durch meine sozialen ängste vermied ich den 'realen' Kontakt mit anderen - und dann noch so ein heikles Thema. Schriftlich würde es aber gehen, darin war ich geübt", schreibt ein Betroffener (Winni 1998, S. 73). "Jemanden zum 'Reden', jemanden, der mich versteht, ohne daß ich die Sicherheit meiner Wohnung aufgeben mußte", war die Erwartung, die eine depressive Frau an das Internet stellte (Jaeger 1998, S. 41).

Tatsächlich kann die elektronische Kommunikation für Menschen mit diesen Problemlagen ein Weg aus der Isolation sein, genauso, wie sie für Personen, die aus anderen Gründen (etwa Behinderung) die Wohnung nicht verlassen können, einen alternativen Kommunikationsweg darstellen kann.

Bei ganz spezifischen Fragestellungen bietet das Internet eine Informationsquelle, die Daten aus der ganzen Welt umfaßt. So beschäftigen sich etwa Foren und Newsgroups auch mit Erkrankungen, die eher selten auftreten. Hier kann auf elektronischem Weg ein unkomplizierter und kostengünstiger Austausch mit Betroffenen und Experten in aller Welt stattfinden.

 

3. Niedrigschwelligkeit und selbstbestimmte Intensität des Austausches

Im Gegensatz zu relativ starren Settings in Kliniken oder auch zu den Verpflichtungen in einer Therapiesituation kann im Netz auf Kontakte zugegriffen werden, wann immer man es möchte. "Ich kann selbst bestimmen, wann ich neue Mails herunterlade und wann ich sie lese. Und (noch viel wichtiger): Ich kann selbst entscheiden, wann und welche Mails ich beantwortet will.", beschreibt eine Betroffene den Vorteil, den eine Mailingliste verglichen mit einer stationären Therapie für sie hatte (Jaeger 1998, S. 42).

In den meisten Mailinglisten und Foren zu anderen Themen gibt es Zeiten, in denen sich viel tut und besonders einzelne Schreiber sehr aktiv sind, während sich andere kaum melden. Es mag zwar auch bei den meisten virtuellen Gemeinschaften einen "harten Kern" geben, der sich durchgehend sehr aktiv zeigt, dennoch entstehen während der ersten Kontakte durch die Unverbindlichkeit des Mediums weniger Verbindlichkeiten und Verpflichtungen, wie das zum Beispiel bei einer Selbsthilfegruppe der Fall ist.

 

4. geschützte Räume, Anonymität und Kontrolle der Selbstpräsentation

Im Gegensatz zum Usenet sind Mailinglisten kein offenes Angebot im Internet: Die Informationen, die dort ausgetauscht werden, sind nicht für die breite Mehrheit der Surfer bestimmt, sondern nur den jeweiligen (mehr oder weniger kleinen) Kreis der Abonnenten. ähnlich verhält es sich bei passwortgeschützten Foren und Bereichen eines WWW-Angebotes, das durch Authentifizierung bestimmten Mitgliedern zugänglich ist. Durch diese Schaffung von virtuellen Räumen ausschließlich für Betroffene werden unerwünschte Voyeure und Spione ausgeschlossen und so Bereiche zum spannungs- und angstfreien Austausch geschaffen, ohne den Druck, sich gegenüber Nichtbetroffenen erklären und rechtfertigen zu müssen (vgl. Jaeger 1998, S. 42).

Im "offenen" Internet, also in allgemein zugänglichen Angeboten besteht die (häufig genutzte) Möglichkeit, seine echte Identität hinter einem selbstgewählten Phantasienamen, dem sogenannten Nickname, zu verbergen. Dies mindert ängste und macht durch den Schutz, den die Anonymität dieses Pseudonyms bietet, viele Diskussionsbeiträge und Fragen erst möglich (vgl. Döring 1998, S. 139; dort bezogen auf Internetdiskussionen mit sexuellem Inhalt).

Die Reduktion der Kommunikation im Internet auf Schrift und das Fehlen anderer Informationen zu einer Person wie etwa Aussehen oder soziale Rolle kann nicht nur als negative Eigenschaft des Internet gesehen werden, sondern offeriert auch Chancen: Die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, welche Informationen über mich ich gegenüber den anderen preisgebe und welche Dinge ich lieber vorerst für mich behalten möchte, führen zu einer niedrigeren Hemmschwelle bei der Kontaktaufnahme zu anderen.

 

5. Kompetenz durch eigene Betroffenheit

In der Arbeit mit Selbsthilfegruppen im Rahmen meines Studiums galt die Maxime, Selbsthilfegruppen und ihre Teilnehmer als Experten in eigener Sache wahrzunehmen. Niemand kann vollständig nachvollziehen, wie es sich für den Betroffenen anfühlt, depressiv zu sein oder unter Entzugserscheinungen im Rahmen einer Abhängigkeit zu leiden.

Doch nicht nur das Verstehen von Gefühlen und das Nachvollziehen von krankheitsspezifischen Gedankengängen ohne den Erklärungsdruck, der in der Kommunikation mit Nichtbetroffenen entsteht, ist etwas, das die Betroffenen im Internet so positiv erleben. Viele Teilnehmer der Kommunikation im Netz haben durch den großen Leidensdruck und teilweise jahrelange Betroffenheit von ihrer Krankheit großes Wissen über Therapien, Medikamente und ärztliche Hilfemöglichkeiten erworben (vgl. Kestler 1998, S. 27).

Dieses Wissen weitergeben zu können und von den Erfahrungen der anderen zu profitieren ist ein wichtiges Element im der Kommunikation Betroffener im Netz. Die Wirkungsweise eines Medikaments von jemandem geschildert zu bekommen, der dieses selbst eingenommen hatte, gibt der Information eine ganz andere Qualität als die Erklärung eines Mediziners. Ab einer gewissen Teilnehmerzahl ist es zudem gar nicht so unwahrscheinlich, daß jemand in der Mailingliste oder in einem Forum von seinen Erfahrungen mit genau der Klinik berichten kann, in der man seine Therapie plant oder daß sich jemand findet, der selbst bei eben diesem Arzt in Behandlung war, zu dem man selbst gehen möchte.

 

6. Emotionale Wärme und persönliche Kontakte

Gerade psychischen Problemen geht durch Tabuisierung, Verdrängung und Scham oftmals eine lange Zeitspanne voraus, bevor man sich anderen in irgendeiner Form anvertraut. So ist es für viele Betroffene ein sehr bewegendes Erlebnis, über das Internet Menschen in den selben Problemlagen zu finden und in virtuellen Gruppen verstanden zu werden (vgl. Jaeger 1998, S. 42).
Die liebevolle Atmosphäre und die Gelegenheit zum ernsthaften Austausch, der den eigenen Problemen durch die Kommentare und Anregungen anderer neue Perspektiven verleiht, wird von den Nutzern als sehr positiv und ermutigend erlebt, fördert den weiteren Austausch und ermuntert eigenes Aktivwerden in der Gruppe:

"Ich spürte, wie sich andere über meine Probleme tiefere Gedanken machten und dabei auch sehr viel von sich offenbarten. Mit all dem Offenbarten wurde sehr vorsichtig und sensibel umgegangen. Jeder erspürte, wie schwer das für den anderen war und wieviel es ihm gleichzeitig bedeutete. Und jede positive Erfahrung gab mir den Mut, es erneut zu tun. [...] Durch die Vielzahl von Meinungen wird das Problem von ganz unterschiedlichen Blickwinkeln angegangen. Jeder kann etwas aus seinem Erfah­rungsbereich einbringen, das Bild wird immer vollständiger. Anderen mit meinen Erfahrungen ein Stück weiterhelfen zu können - das empfand ich auch immer als wohltuend."
(Winni 1998, S. 75f., bezogen auf eine Mailingliste zum Thema Angst)

Nicht immer bleiben diese Kontakte auf den virtuellen Austausch beschränkt: In einigen Mailinglisten habe ich erlebt, daß einzelne Schreiber Telefonnummern und Adressen ausgetauscht haben, um auf diesem Weg weiter miteinander kommunizieren zu können; mitunter kommt es auch zu Treffen, an denen viele Teilnehmer einer Liste dabei sind. Oft wird der persönliche Kontakt von Angesicht zu Angesicht nach anfänglichen Spannungen und Unsicherheiten ähnlich positiv und gewinnbringend erlebt wie der virtuelle Austausch (vgl. Winni 1998, S. 80 ff.)

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